In meinem Roman gibt es eine Stelle, die ich nur selten bei Veranstaltungen vorlese. Vielleicht weil ich mich vor der Auseinandersetzung drücke, die kommen könnte. Bei den kurzen Ausschnitten einer Lesung, die nicht genug Kontext gewährleisten, wäre die Gefahr der Provokation zu groß; das Missverständnis kaum zu vermeiden. Koffel, ein altlinker Dorfkauz, macht Ziggy, einer Israelin, die bei ihm in einem deutschen Dorf gestrandet ist, ein Geständnis:

Da war eine Sache, über die er noch nie mit jemandem gesprochen hatte. Ziggy

würde sie vielleicht verstehen. »Weißt du«, begann er, »ich war mal für zwei Monate in Algerien. War eine schöne Zeit, hab auch ein paar Einheimische kennengelernt. Jedenfalls bin ich da in ein Militärmuseum gegangen, Unabhängigkeitskrieg und so weiter. Da stand ich plötzlich vor einer Vitrine über den Zweiten Weltkrieg, und da stand, wie viele Afrikaner für die Alliierten gekämpft hatten und trotzdem keine Renten bekommen … Jedenfalls, da war auch ein Porträt von Adolf und überall die Hakenkreuze auf den Dokumenten und Medaillen und … und das war das erste Mal in diesem Urlaub, dass ich Heimweh bekommen habe. Ist das nicht bescheuert? Denn das ist ja auch mein Deutschland.« Koffel legte die Stirn in ein Meer von Falten und sah Ziggy verzweifelt an.» Nicht Deutschland ist meine Heimat, sondern die deutsche Geschichte. Verstehst du? Der ganze Nazi-Klimbim, so verhasst der mir auch ist; ich fühle mich darin zu Hause. Meine Abscheu ist Teil meiner Heimat. Und die Leute, die diese Erfahrung hier teilen. Ich bin froh, hier geboren zu sein, weil ich so nahe an dieser Geschichte dran bin … und verstehe, was die Leute daraus machen.«

Natürlich spricht Koffel damit meinem eigenen ambivalenten Verhältnis zu Deutschland aus der Seele. Der Grund, warum ich gerne in Deutschland aufgewachsen bin, ist, dass ich dieser Geschichte seit meiner Kindheit hautnah ausgesetzt war. Mit dem Kennenlernen der deutschen Geschichte kam die Verwunderung darüber, welche Risse die nationale Identität erhält. Das Erstaunen, wenn man vor der Erkenntnis steht, dass der Genozid, nicht in den Konfliktgebieten stattfand, die man als Kind aus den Nachrichten kennt, sondern hier bei der eigenen Familie, den eigenen Nachbarn. Dieses Wissen in die eigene nationale Identität zu integrieren und ihr sodann mit Misstrauen zu begegnen, ist etwas, das ich in meiner Sozialisation nicht missen möchte. Mit der eigenen Heimat muss man sich wohl oder übel identifizieren, durch Abwehr oder Anerkennung, Liebe oder Ressentiment, als Objekt der Analyse und der eigenen Gefühlswelt. Anstatt Heimat einfach nur als verlorenen Posten der nationalen Verklärung abzulehnen (Deutschland mag eines der wenigen Länder sein, die eine Kategorie wie den Heimatfilmüberhaupt hat), erschien es mir weiterführender diesen höchst konfliktreichen und ambivalenten Begriff  gerade in seiner Absurdität und in seiner Gefühlsverwirrung anzuerkennen. 

Dabei verstehe ich den Begriff „nationale Identität“ nicht als etwas Feststehendes oder gar Natürliches, aber ich will seine Wirkmacht für die Wahrnehmung der eigenen Biografie anerkennen. Nationale Identität wird erlernt, ist immer ein doing nation – Wie machen wir uns die imaginierte Nation als Teil von uns zurecht? Eines der Hauptprobleme an dem Konstrukt nationale Identität  liegt schließlich darin, dass seine Träger das Bedürfnis haben, diese Identität zu bereinigen. Darum geben sie etwas wie dem Holocaust darin keinen Platz. So bewahrheitet sich Adornos Aussage “Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.” Juden würden somit immer „Nestbeschmutzer“ bleiben. Und die Schlussstrichdebatten werden weitergehen, solange man diese nationale Identität nur affirmativ auffasst  anstatt all das Bittere,  den Hass und die Ausgrenzung dazu zu zählen, die mit der Schaffung von Identität einhergehen. Dazu passen auch solche seltsamen Pläne wie das Stadtschloss in der Mitte Berlins wieder aufzubauen, als wolle man so tun, als gäbe es eine richtige Geschichte für Deutschland, in der das Schloss noch als ungebrochenes Zeichen steht, so dass der Zweite Weltkrieg und die Shoah als geschichtliche Unfälle erscheinen, die eigentlich nicht in den Plan einer deutschen Kontinuität passen. Den Palast der Republik kann man endlich abreißen und damit als falsche Geschichte für Deutschland brandmarken (besonders amüsant hierbei ist natürlich auch, dass das Schloss, dass nun wirklich alles andere als Demokratie, Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung repräsentieren kann dem Palast der Republik vorgezogen wird).

Eine Lehre, die die Deutschen nach dem Holocaust hätten ziehen können, wäre es gewesen, eine kritische Distanz zu dieser Identifikation, die zum Schönreden oder Ignorieren verführt, einzunehmen. Wenn man sich allerdings die wie selbstverständlich geäußerte Skepsis gegenüber Themen wie Einwanderung, Antisemitismus und Alltagsrassismus ansieht, scheint das nicht ins deutsche Bewusstsein eingegangen zu sein. Dieses Ignorieren der Lebensrealität anderer zeigt sich auch an den Asylbewerberheimen, die an den Stadträndern oder in Waldstücken versteckt werden und der Residenzpflicht, die die Bewegungsfreiheit der Menschen einschränken soll; so können wir ihnen erst gar nicht begegnen, um unsere Vorurteile zu überprüfen, und sie in unseren Alltag und unser Denken integrieren.

Nun muss ich auch zugeben, dass diese Lehre für mich zunächst auf den kritischen Blick auf meine eigene Identität beschränkt blieb, und ich mich nicht mit denen beschäftigte, die von diesen Identitätskonstruktionen ausgeschlossen werden. Der Anlass dazu, meine eigenen eingedeutschten Wahrnehmungsmuster zu hinterfragen, war nicht eine Auseinandersetzung mit aktuellem jüdischem Leben, sondern mein Studium der Afrikawissenschaften, das mir nochmal mehr bewusst machte, wie viele blinde Flecken ich übernehme durch einen Blick auf den afrikanischen Kontinent, der noch immer von einer Wissensproduktion dominiert wird, die nur selten von AfrikanerInnen selbst stammt. Die Frage der deutsch-jüdischen Geschichtsaufarbeitung, die in meinem Roman so präsent ist, wurde für mich erst wirklich aktuell, als ich im Laufe meines Studiums in Berlin vermehrt mit Israelis konfrontiert war. Erst hier wurde mir klar, dass ich vom zeitgenössischen jüdischen Leben keine Ahnung hatte, dass jüdisches Leben in Deutschland immer noch abwesend ist und dies als normal wahrgenommen und akzeptiert wird. Diese Abwesenheit, die einen großen Mangel und Verlust in unserer geistigen Kultur darstellt (und ein generell rückständiges Verhältnis zu Migration und Integration widerspiegelt), nehmen wir in unseren Schlussstrich- und Normalisierungsbedürfnissen nicht als solche war. Diese deutsche Normalität – eben die Abwesenheit von Jüdischem Leben –, die ich zu leben gelernt hatte, wurde mir erst beim Schreiben des Buches klar und hat mich, gelinde gesagt, entsetzt. Deutsch-jüdische Begegnungen sind meistens nicht von Selbstverständlichkeit geprägt, sondern von Projektion und Unsicherheit – oft gepaart mit Abwehrreaktionen, Besserwisserei und beinahe genussvoller Ignoranz. Die Arbeit an Eskimo Limon 9 begann, weil ich eben dieses weiße Rauschen aufzeichnen wollte. 

In meinem Roman kommt eine israelische Familie in ein kleines deutsches Dorf, dessen Bewohner tatsächlich zum ersten Mal seit der Shoah mit Juden konfrontiert sind. Dabei wollte ich die Dörfler keineswegs als besonders rückständig darstellen, es ging vielmehr darum eine Situation zu schaffen, wo diese Begegnung zum ersten Mal stattfindet. Wie gehen Menschen miteinander um, wenn sie von Vorstellungen und Projektionen Abstand nehmen müssen, um sich als Menschen zu begegnen? Welche Fragen haben sie aneinander und wie hartnäckig halten sich Stereotype und Vorurteile, wenn man in der Dorfkneipe anfängt zusammen zu saufen? Was passiert, wenn man erkennt, dass man selbst ein Stereotyp der Weltgeschichte repräsentiert – im Falle dieses Buches Juden und Deutsche? Und was, wenn man mit den ambivalenten Alltagserfahrungen des Anderen konfrontiert wird, die ebendiese Stereotype in sich zusammenfallen lassen? Wie nackt stehen wir als Individuen vor der Geschichte, mit ihrer Komplexität nicht nur historischer Fakten, sondern auch der daraus resultierenden persönlichen Gefühle und Interpretationen?

Die demografische Situation und Aufarbeitungsstrategien in der BRD führen immer noch dazu, dass Deutsche mehr über Judenvernichtung wissen als über Juden, und keine Vorstellung von der Individualität und Komplexität der Menschen mit israelischer Familiengeschichte haben. Deshalb war es mir  wichtig im Buch eine israelische Alltagskultur darzustellen, von der viele Deutsche, so wie ich früher, keine Ahnung haben. Aufgrund dieser Abwesenheit versucht man umso stärker die Puzzleteile, die man von anderen Identitätskonzepten – in diesem Falle Jüdisch – hat, festzuklopfen, gar auf diese zu bestehen. Manchmal behauptet man sie gar als eigenes Wissen über die Anderen, um das eigene Verständnis und Handeln vereinfachen zu können. In einer solchen Konstellation – einer wirklichen Begegnung – fällt es uns schwer Identität als fließend und flexibel zu akzeptieren; will man doch verhindern, dass das gerade Erlernte und Festgestellte durch die Individualität des Gegenübers wieder durch die eigenen Finger rinnt. So flexibel Identität tatsächlich ist, sie bleibt doch auch ein Referenzpunkt in der eigenen Biografie, den andere nicht immer nachvollziehen können. Die Komplexität der jüdischen Identität verstehen zu wollen, sollte selbstredend auch dazu motivieren, die eigene deutsche Identität als solche wahrzunehmen – gerade weil das deutsche Verhältnis zum Jüdischen von so vielen schuldbewussten Abwehrhandlungen geprägt ist. Vielleicht schaut Koffel auch deshalb trotzig auf das Hakenkreuz als identitätsstiftendes Symbol, vielleicht gibt es da ein Jetzt erst recht als liberaler Linker, der sich einem bürgerlichen, ängstlichen Streben alles richtig zu machen, widersetzen will, weil es seiner Erkenntnisfähigkeit im Weg steht.

Auch Ziggy, die israelische Hausfrau und Hauptfigur im Roman setzt sich in der Ferne wieder vermehrt mit der Heimat auseinander: eine Auseinandersetzung mit den Dingen des Alltags, den individuellen Erinnerungen, die diese auslösen und den historischen Fakten, die sie widerspiegeln. Bei Lesungen werde ich manchmal gefragt, ob mein Buch eine Mischung aus Sachbuch und Roman ist, da ich so viele Anspielungen auf popkulturelle Phänomene und geschichtliche Ereignisse mache. Ich sehe mein Buch gerne als eine Art narratives Nachschlagewerk, das die LeserInnen dazu animiert bestimmte Begriffe in die Suchmaschine ihres Internetbrowsers einzugeben, um sich dann auch substantieller mit einer anderen Lebensrealität auseinanderzusetzen. Ich wollte Objekte und Ereignisse, die den Menschen etwas bedeuten, die sie zu Betrachtungen und Dialogen inspirieren zu Wort kommen lassen. Israelis und Juden verschwinden oft in ihrer Individualität hinter deutschen Fokussierungen auf den Holocaust oder den Nahostkonflikt, sodass ihre Lebensrealität, die selbstredend weit darüber hinausgeht, unsichtbar bleibt. Es ging mir weniger darum mich an geschichtlichen Fakten abzuarbeiten, sondern darum wie Menschen mit Geschichte umgehen, wie sie diese in ihre Interpretation der eigenen Biografie einbetten, wie sie eine Art imaginäre Geschichtsaufarbeitung betreiben, die eigentlich die Verarbeitung ihrer Krise darstellt, die ihre Identität als Gefangenschaft in ihnen auslöst. Denn das Zeichenvokabular mit dem man versucht Identität festzunageln, wird den Menschen niemals gerecht. Die Musikerin Kathleen Hanna sagte einmal, wir seien alle von Geburt an in unseren Körpern politische Gefangene, durch das was wir darstellen müssen, als Weiße, als Schwarze, als Juden, als Frauen, Männer, Behinderte, etc. Nur werden manchen Identitäten mehr Privilegien und Flexibilität zugesprochen als anderen.

Wie steht es also um die Lebensrealität in Israel? Und warum ist diese in der deutschen Gesellschaft nicht präsent, womit ein komplexeres Bild der Menschen verhindert wird, deren Vorfahren in den 30ern und 40ern hier unter uns lebten und von uns vertrieben und ermordet worden sind. 

Diese Diskrepanz wollte ich, wenn auch nicht auf den ersten Blick offensichtlich, auch im Titel widerspiegeln. Eskimo Limon 9 basiert auf dem Titel einer in Israel gedrehten Serie von Filmen, die als Auseinandersetzung mit dem Teenagerdasein in Israel anfingen und allmählich zu schalkhaften Softpornos verkamen. In den 80er Jahren waren sie auch in Westdeutschland sehr bekannt und erfolgreich. Der Name ist einem im Israel der 60er Jahre sehr populären gleichnamigen Wassereis entlehnt, weshalb die Filme hierzulande unter dem Titel Eis am Stiel vermarktet wurden. Wenn ich diesen Umstand vor einer Lesung dem Publikum erläutere, kommt hier der erste Lacher. Der ist mir sicher. Immer. Das liegt am Bezug zur eigenen pubertären Übertretung, damals, als man nachts auf den Privatsendern diese Filme gesehen hat, und gleichzeitig das Erstaunen, dass man ausgerechnet damit bei einer Lesung konfrontiert wird, auf der man die Auseinandersetzung mit etwas ganz anderem erwartet hat, als mit sich selbst. Obwohl Eskimo Limon eines der wenigen israelischen popkulturellen Güter ist, die einem deutschen Publikum bekannt wurden, war den meisten in der BRD nicht bewusst, dass diese Filme aus Israel stammten. Ich persönlich dachte als Teenager, die kommen aus Italien. Und von eben dieser Diskrepanz im Wissen um den Anderen handelt mein Roman. Er reflektiert mit diesem Titel das lückenhafte Wissen der Deutschen über das imaginierte Jüdische, das normalerweise als reine Symbolik versteinert bleibt, eben versteinert als Ruinen der Synagogen oder Gedenktafeln an Häusern. Der Titel Eskimo Limon 9 ist somit auch ein Kommentar zur Position dieses Romans in einer deutsch-jüdischen Vermittlungsgeschichte. (Ich hatte Zweifel den Begriff Eskimo im Titel zu verwenden, denn es handelt sich um eine Fremdbezeichnung, die von den Betroffenen meist als abwertend abgelehnt wird. Allerdings ist es eben diese Verwirrung in der Fremdbestimmung, um die es mir in dem Buch geht. Es handelt von den Zwängen, die durch Identitätszuschreibungen entstehen und die uns beim Menschsein gehörig einschränken. Eskimo Limon ist in etwa so schlimm wie der Sarotti Mohr: verniedlichter Rassismus in Form eines Konsumproduktes, komplette Ignoranz dafür, mit welcher Lebensrealität sich die so Bezeichneten abkämpfen müssen und welche (nicht wahrgenommene) historische Verantwortung heute noch Einfluss auf ihre Lebensrealität hat. Aber vielleicht gerade deshalb war es der einzig richtige Titel für dieses Buch. Ansonsten empfehle ich, von der Verwendung des Wortes Eskimo Abstand zu nehmen.)

Letzten Endes ging es mir um die Aufarbeitung meiner eigenen blinden Flecken, meiner eigenen Berührungsängste, die mir bei den wachsenden Freundschaften zu Israelis in Berlin zunehmend bewusst wurden. Was in der deutschen Gedenkkultur oft fehlt, ist die Ehrlichkeit, diese Unsicherheit zuzugeben. Diese Ehrlichkeit ist aber nur möglich, wenn ich mich als Deutsche auch selbst entblöße. Mein guter alter Freund Daniel Kahn, der mich zu einer der Figuren im Roman inspirierte, bezieht sich deshalb auch auf eine Gegenwartsbewältigung statt Vergangenheitsbewältigung. Erkenntnisse können erst kommen, wenn man zugibt, dass man vieles nicht weiß, oder mit vielem nicht umzugehen weiß. 

Ich freue mich immer darüber, wenn ein Thema mir sagt, durch welches Medium es behandelt werden will. Vor dem Roman behandelte ich das Thema der Beschränkungen persönlicher Autonomie durch einen Dokumentarfilm, der Aktivistinnen portraitiert, die für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen kämpfen, in Ländern in denen dieser noch immer verboten ist. Bei dem Dokumentieren der Unsicherheit deutsch-jüdischer Verhältnisse, auch meiner eigenen, erschien mir aber ein Roman die effektivste Form zu sein; vor allem hilfreicher als ein akademischer Text. Es brauchte die Inszenierung von Momenten, die die Sehnsucht nach Erkenntnis und Selbstbefragung auf den Punkt bringen, wie eben Koffels durch Hakenkreuze stimulierte Heimatgefühle. Wenn man der Komplexität der Gedanken, Gefühle und Handlungen von Menschen gerecht werden will, hilft die Vielstimmigkeit eines Romans durch seine verschiedenen Figuren, sowie die Lust in einer fiktionalen narrativen Form die Charaktere ihrem eigenem Unbehagen auszusetzen – dem Unbehagen, das auch mein eigenes Verhältnis zur deutschen Geschichte prägt. Und da gibt es noch den Humor, der in der Form des Romans eher zu Hause ist, der ebenfalls irgendwo zwischen Entblößung und Erkenntnis stockt. Das Lachen des Publikums, das bei manchen Lesungen kaum noch aufhört, bringe ich in den anschließenden Publikumsdiskussionen gerne zu Sprache. Und ich konnte feststellen mit welch verblüffender Ehrlichkeit die Leute über ihr eigenes Unbehagen sprachen; man lacht, weil man nicht weiß, wie man sonst auf den Text reagieren soll oder weil man in der eigenen Erleichterung, das Thema so behandeln zu können, sich von einer Textstelle in die nächste fallenlassen will oder weil so ein Kommunikationsbedürfnis ausgedrückt wird, das bei einer Lesung keine andere Äußerung kennt als Raunen oder Lachen. Ich selbst habe oft den Eindruck, ich habe nicht unter Kontrolle, wie der Text aufgenommen wird, ob gelacht wird oder nicht. Dies behagt mir nicht unbedingt, aber ich begegne meinem  eigenen Unbehagen mittlerweile sehr freundlich. Dieselben Stellen lese ich vor staubtrockenem oder kicherndem Publikum, ich habe nicht das Gefühl, dass ich das  in der Hand habe. 

Ein Roman, erst mal veröffentlicht, wird zu einer Kreatur, die man nicht mehr unter Kontrolle hat und ich wollte nie wirklich die Kontrolle haben, sonst hätte ich nicht so schreiben können. Als Nicht-Jüdin jüdische Perspektiven zu repräsentieren, schien mir während des Schreibens selbstredend problematisch, umso mehr hat es mich gewundert, dass bisher keine Kritik daran geäußert wurde. Ich war beim Schreiben auf Kritik gefasst, der ich allerdings höchstwahrscheinlich zugestimmt hätte, als Teil der deutsch-jüdischen Mediengeschichte, die eben auch in ihrer Komplexität der Subjektivität der Rezipienten besteht.. Aber die Anmaßung dieses Buch als Nicht-Jüdin zu schreiben, gehört wahrscheinlich eben zu der Auseinandersetzung mit dieser Geschichte dazu.   Da gibt es nichts Richtiges oder Falsches. Ich wusste, wenn ich dieses Buch schreiben will, muss ich es aushalten nicht auf der sicheren Seite sein zu können. Denn die gibt es nicht in der Entblößung. Und ohne Entblößung gebe es keinen Roman.


aus: “Was hat der Holocaust mit mir zu tun” hg. von Harald Roth, Pantheon Verlag